Des Heiligen Urschrei. Mein Leben im Abriss. Band 4. - Die Bonner Jahre 1985-2010

Von Wolfgang Kubin (Autor/in). | 240 Seiten | Erscheint voraussichtlich: 15. 06. 2024 | ISBN: 9783991140450 | 1.Auflage

1985 war ein Schicksalsjahr im Leben von Wolfgang Kubin. Er wurde vorerst als Professor für Chinesisch, dann für Sinologie an die Universität Bonn berufen.

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Er verließ das geliebte Berlin und zog ins Rheinland, das ihm schnell ans Herz wuchs, so dass er es nie mehr verlassen wird. Bd. 4 schildert den beruflichen Werdegang, die Geburt der Kinder, den Bau eines Hauses und die Vorbereitung auf die kommenden chinesischen Jahre, die jedoch keinen Abschied bedeuteten, sondern nur ein Zwischenspiel.

Ein jeder Tag bietet viele Momente des Behagens. B.D.

Das Offene


Tote können sich ich nicht wehren, Lebende dagegen schon. Dies hat eine Auswirkung auf das Schreiben. Eine liebe Freundin aus den alten Pekinger Tagen zum Beispiel möchte in meiner Autobiographie keine Erwähnung mehr finden. Zwetschge hat schon vor langer Zeit beschieden, sie wolle überhaupt nicht vorkommen, ja sogar um die Aufgabe meines Tuns gebeten. Margit Miosga verfügt, sie habe keine Photos von sich aus den 80er Jahren.
Photos, dies ist leicht nachvollziehbar, wünscht sich der Verlag in Hülle und Fülle. Mitunter nimmt die geneigte Leserschaft von diesen vor jeglicher Lektüre gar begierig Notiz. Doch wie schreibt man gegen die Verweigerung des lebendigen Personals in seinen Memoiren an? Dinge sind da einfacher zu handhaben, sie müssen Ruhe geben, ob vor der Kamera oder unter der Feder. Und wie steht es mit dem Verfasser, gibt er wirklich alles von sich preis oder behält er vielleicht so viel zurück, daß er nicht nur der Welt, sondern ebenfalls sich selbst ein anderer wird? Ein Schauspieler, ein Gaukler, eine Marionette seines Narzißmus?
Eine Selbstdarstellung unterliegt keinem Realismus. Sie ist ein übermütiger Entwurf: So hätte ein Leben gewesen sein können, ob gelungen oder nicht. So sind die einen gesehen, ob sie es wollen oder nicht; so werden die anderen sich wiederfinden, ob beglückt oder nicht. Ist es in jedem Fall das wahre Bild oder das unwahre? Hier sind wir bei der uralten Frage, was ist Wahrheit? Im Grunde genommen schaffen wir nur Bilder. In diese kleiden wir ein, uns selbst oder die Welt. Diese mögen uns so genehm sein wie anderen unangenehm. Wir äußern uns, die Betroffenen reagieren, so amüsiert wie zornig.
Daher die Frage, wie geht man mit Freundinnen, mit Freunden um? Nur Wiener Schmäh, der mir dank meiner österreichischen Verwandtschaft durchaus liegt? Wenn ich also den guten Kameraden ebenfalls aus den alten Pekinger Tagen, Richard Trappl, im letzten Band als Gockel beschreibe, so scheine ich gegen das Prinzip Honigmaul verstoßen zu haben. Eine Biographie heißt dem Namen nach nichts anderes als das Leben (bios) niederzuschreiben (graphein), damit sie als Suche nach einer Sinnstiftung nicht zur willkommen geheißenen oder befürchteten Fiktion verkommt. Daher darf, ja muß auch argwöhnisch vorgegangen werden, nicht nur gegenüber der eigenen Person, sondern ebenfalls im Falle derjenigen, die einem nahestehen. Jeder könnte sonst jede bluffen und umgekehrt. Die genaue Betrachtung ist aber ein Akt der Liebe, der leicht mißverstanden wird.
Besagte Pekinger Freundin hat meine analytische Würdigung ihres verzwickten Lebens nicht akzeptiert, obwohl der bildliche Anhang des zweiten Bandes gespickt ist mit Zeichen der Kameradschaft. Sie hängt mir Bosheit, Senilität, Hochmut und Öde an. So bin ich eben. Vokabeln wie diese sind noch die harmlosesten Beschreibungen meiner Tätigkeit als Beobachter mancher Leben. Ich nehme ihr das nicht übel. Eine Biographie ist schließlich mehr Deutung als Tatsache. Einer heiligen Frau wie ihr muß diese ja, um mit Friedrich Nietzsche zu sprechen, als Seuche erscheinen.
Warum dann aber sich als Biograph von Seuche zu Seuche schleppen, statt die Geschichte Historie sein zu lassen? Schmäh würde die Vergangenheit zu sehr auflockern, Schreiben und Lesen wären bald der Wahrheit elend Ding. Also sich selbst und anderen wehtun? Schmerzen können wie eine Befreiung daherkommen. Und diese sollte eine Biographie wagen. Ich habe ja weder mein Elternhaus noch mich selber schöngeredet, warum habe ich dann die Freunde um der Freundschaft willen zu schonen? Mich darf es daher bitte ängsten, wenn große Talente wie der dicke Richard ihre hohen Gaben verschleudern. Dicker Richard? Zur Erklärung: Im kalten Winter von Peking bei bis zu 20 unter Null zogen wir alle Kleidung an, die wir aus der Heimat mitgebracht hatten. Nur Richard wirkte pummelig. Wie ein niedlicher Pomm-Pomm Bär. Und was habe ich zur Geschichte eines Gockels nachzutragen?
Der charmante Richard stand täglich in meiner Pekinger Kammer, um sich, wie ich es verstand, über psycho-somatische Schmerzen zu beklagen. Ihn steche es hier, ihn steche es da. Ich kannte das längst, ich kenne das bis heute: Ein Teufel scheint selbst nachts, den Leib zu durchwandern und zu spotten, wo sind deine Siegesbeweise? Ist es nicht schon genug, wenn uns der Mittagsteufel um die Mittagszeit einholt, die tiefste Melancholie aus dem tiefsten Wien, und ebenfalls witzelt,, ach, du armer Wicht! Und kein Veltliner, kein Schnitzel helfen. Zu keiner Nacht, an keinem Tag. Noch weniger der österreichische Rum mit seinen 80%, gern zum Jagertee gestutzt.
Richard also gockelte durch Kuala Lumpur. Das war gut dreißig Jahre nach Peking. Er war sich seiner Ehre bewußt. Er war um seinen großen Vortrag zum betörenden Roman Traum der Roten Kammer gebeten worden. Zwecks feiler Publikation natürlich. Er stolzierte so lange, bis er seinen wertvollen Beitrag in den Druck zu geben vergaß. Ein eigenes Buch zuvor oder danach? Keines! Jemals eines? Niemals! Warum nicht? Als Sohn eines Generals lag und liegt sein einziges Interesse darin, den Mächtigen in Österreich und in China Diener zu sein. Das versteht er zur besten Genüge. Er läuft allen Kurzis hinterher. Das ist Wien, vor dem mich meine Wiener Mutter immer gewarnt hat. Ich wiederhole ihre Worte: In Wien beginnt der Orient, das heißt Bakschisch. Hast du was, bist du was. Buckeln lautet die Devise.
Das Trappelchen, wie wir den geschmeidigen Leisetreter nannten, war schließlich in die Schule von Otto Ladstätter gegangen. Da hat er an der Universität Wien gelernt: Kein Buch ist ein Buch. Klingt so taoistisch wie zen-buddhistisch. Der dicke Richard, obwohl Katholik, hat sich daran gehalten. Sein geistiger Vater Ladstätter, der den Giganten Gerd Kaminski sein Leben lang zu malträtieren suchte, fand mich nie einer Antwort für würdig. Er war eben Gott. So starb er auch göttlich an der Schwelle seines Büros, aufgelesen von seinem verachteten, ihn verachtenden Personal. Welch ein Ableben! Ich habe ihn immer verehrt, diesen großen Linguisten, diesen erbärmlichen Menschen. Ich werde ihm nie die Angriffe auf den Kollegen Lao Ka (Kaminski) verzeihen, den größten Sinologen nach Erwin Ritter von Zach in Österreich. Niemand kann sich an der Donau mit Kami-kaze, wie ich den Josefstädter wegen seiner neunzig Buchpublikationen nannte, vergleichen! Auch keine Susanne, keine Wei Gelin, kein Erich Pilz? Ich werde auf die beiden lieben Kollegen noch zurückgreifen. Bis dahin wird mir weiter eine Anekdote vom Meister der Anekdoten durch den Kopf gehen. Eines der letzten Worte von Otto Ladstätter lautete: Die Wiener Sinologie ist sehr gelobt worden. Von wem denn? Wahrscheinlich von dem Ahnherrn der deutschen Sinologie Herbert Franke. Gelobt wofür? Für Behinderungen und Verhinderungen? Einmal gedachten Erich Pilz und Richard Trappl, eine wissenschaftliche Zeitschrift in ihr akademisches Leben zu rufen. Ihr Meister schritt ein und beschied: Eine gute Zeitschrift biete stets nur zwei gute Beiträge, diese könne man auch woanders einreichen. So und ähnlich endeten alle Unterfangen unserer beiden ehrwürdigen Herren. Die Wiener Sinologie ist sehr gelobt worden? Vom Teufel sicherlich.
Richard Trappl hat seinen Schalk zu seinem schmalbrüstigen Lehrer beigetragen. Zu was? Wie Ladstätter pflegt er keine Briefe zu beantworten, auch die meinen nicht. Ich bin eben kein Kurzi. Er hält es mit Leuten, die in höchsten Ämtern stehen. Ich bat einmal diesen so geschätzten Freund dreimal um eine Auskunft. Nur er konnte sie mir geben. Es kam keine. Ich reiste deswegen nicht zum Kongress nach Wien im Jahre 2017. Ich wollte kein unvollkommenes Manuskript abliefern. Ich reichte es dennoch unvollkommen ein. Aber ich erschien nicht zum Symposium. Warum nicht? Warum all dieser Kleinkram? Ganz einfach, wer keine Kinder hat, weiß nicht, was Zeit ist. Ich habe vier und hüte meine Stunden. Und damit beginnen meine philosophischen Fragen. Wer sind wir, was sind wir, was wollen wir außer Orient, Bakschisch und Kurzi?
Als Preuße habe ich leicht reden, nicht wahr? Richard Trappl ist ein hochbegabter Redner in drei Sprachen, superber Lehrer, exzellenter Wissenschaftler und begnadeter Diplomat, von mir in mehreren, später veröffentlichten Ansprachen, u.a. im Wiener Parlament, gerühmt. Aber ich bin ihm nie zu Kreuze gekrochen: Herr Hofrat
Und dennoch wage ich, von ihm als Gockel zu sprechen? Ein jeder Mensch hat viele verschiedene Seiten. Er möchte natürlich eher von den guten hören oder lesen. Als ich vor kurzem den genialen Richard kritisierte, ein und denselben Vortrag nach zehn Jahren auf einem internationalen Kongress wiederholt zu haben, reagierte er mit Empörung: Wie dürfe man ihn so zur Rede stellen? Er ist also auch ein Gott. Ich dagegen fühle mich bei Lob unwohl, kann daher leichter mit Tadel umgehen. Das mag Folge des Musikunterrichts am Rheinenser Gymnasium sein. Der Gedanke von mea culpa hat sich mir so tief eingeprägt, daß ich manchmal aufschrecke: Hättest du doch damals den Erläuterungen des Lehrers mehr Aufmerksamkeit geschenkt, du wüßtest heute, was eine Fuge ist und müßtest nicht unnötig nachschlagen. So verdamme ich mich ein um das andere Mal. Richard dagegen weiß, was eine Fuge ist, er war Sängerknabe und versteht sich auf die Pekinger Oper.
Das Mensch, wie man ihn an der Wien vorschlägt, will nur gepriesen sein. Aber was ist mit dem Schreibenden? Er schleicht sich tatsächlich manchmal mit einer Flasche hochprozentigen Schnaps in die Betten der Depression, um danach als Alkoholiker von seiner Pekinger Freundin veräfft zu werden? Selbst eine Autobiographie ist eine Überzeichnung, ein böses Spiel, ein linder, ein blinder Spaß. Es geht um die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unserer so träumenden wie traumhaften Existenz. Wir stehen immer in der Schuld, so oder so.....

Verlag[Firma Bacopa Verlag]
ISBN9783991140450
Auflage1
Ausführung Gebunden
Erschienen2024
Seitenzahl240
Illustrationenzahl220
Cover Hardcover
Autor/in Wolfgang Kubin (Autor/in)